Ödipus ´Ende´, Sophokles
(497/96 - 406 v. Chr.)
376 Seiten, Broschiert, Format: 148 x 210 mm
Verlag: Peter Lang, Frankfurt
Erschienen im Juli 2008
ISBN: 978-3-631-61407-5
Buchbesprechung
Manfred
Krill: Ödipus` Ende, Sophokles (497/96 – 406 v. Chr.): König Ödipus
in Kolonos (Oidipous epi kolonō) - psychoanalytisch neu gelesen.
erschienen
im Verlag Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften Bern,
Brüssel, Oxford, New York, Berlin, Frankfurt, Wien |
Hier
interpretiert der Autor aufgrund der Prosaübersetzung durch Herrn Prof. Dr.
Thomas Paulsen / Frankfurt und einzelner Beiträge anderer Übersetzer wie
Woerner und Handke mit Hilfe der sog. psychoanalytischen Kompromisstheorie
das Stück in wesentlichen Teilen neu. Danach handelt das Stück von der
Willkür der Götter und dem Aufbegehren Ödipus`
dagegen. Aus unbewussten Vergeltungsängsten und Schuldgefühlen wehrt er
seine aggressiven Regungen gegen die Götter und gegen seine Ankläger Chor,
Theseus und Kreon ab, vor allem durch Wendung gegen sich selbst,
Identifikation mit dem Angreifer und Verschiebung auf Andere. Um den Göttern,
die schon längst den Untergang der Labdakiden beschlossen haben,
zuvorzukommen und endlich sein Schicksal und das seiner Familie in die
eigene Hand zu nehmen, sucht Ödipus den Tod bei den Erinnyen / Eumeniden,
den Rachegöttinnen für Vergehen unter Verwandten, insbesondere für Inzest
und Mord. Seinen daraus resultierenden Vernichtungswillen hat die Nachwelt
in ihrem Bedürfnis zur Idealisierung nicht erkennen wollen, sondern für
ein Erhöhungsstück plädiert.
Vom
Chor, von Sophokles als betont unkreativer Klub von alten Männern, die sich
kaum noch auf den Beinen halten können, aber noch einmal etwas mitreden möchten,
wird Ödipus wie von einem Großinquisitor angeklagt. Aber auch Theseus und
Kreon können es nicht lassen, ihn hämisch mit seinen Taten zu
konfrontieren. Ödipus macht den Fehler, sich zu verteidigen, und nimmt
insofern die Rolle des Angeklagten an, bis er sich am Ende auf sich selbst
besinnt.
Es
handelt sich um ein mutiges und gedankenreiches Buch für Psychoanalytiker,
Antikenforscher, Theater- und Filmwissenschaftler und Interessierte. Der
Autor setzt sich auch mit den überkommenen psychoanalytischen Auffassungen
zu diesem Stück gründlich
auseinander.
Er kann nachweisen, dass dem Stück vielfach nur analytisches Lehrbuchwissen
übergestülpt worden ist und außerdem Analytiker wie andere Rezipienten
voneinander abgeschrieben haben, ohne das Stück selbst aber sorgfältig zu
lesen. Hier hat der Autor das Stück vor falschen psychoanalytischen
Freunden schützen müssen. Aber auch auf literarischer Seite wurden
jahrtausendelang offenbar oberflächliche, formalistische Debatten geführt.
In seinen
scharfsinnigen, kein Detail auslassenden Textanalysen legt der Autor das
Ungenügen auch der tradierten, bloß literarischen Betrachtungsweise mit
ihren Formalismen frei. Er kommt durch brillantes Anwenden der von Freud und
seiner Tochter Anna Freud entwickelten und u. a. von dem amerikanischen
Psychoanalytiker Gray präzisierten psychoanalytischen Strukturtheorie mit
ihrer Abwehrlehre zu einem neuen Gesamt-Verständnis sowie zu zahlreichen
Neubeobachtungen in diesem Stück, das bislang zu Unrecht als Sophokles`
schwächstes Stück galt, aber wie ein spannendes Kriminalstück mit
Erwecken von falschen Erwartungen im Zuschauer aufgebaut ist.
Das Buch weist auch
nach, dass die Handlung nicht in „grauer Vorzeit“, sondern im Athen des
5. Jhdt. spielt und der Dichter nur den alten Sagenstoff zitiert, aber seine
„jetzige“ Zeit meinte. Der Autor wird Sophokles gerecht, indem er wie
Sophokles selbst die Tragödie als in ihren wesentlichen Inhalten zeitlos
auffasst und es ebenfalls – weitgehend - in die heutige Zeit versetzt, wie
Sophokles es mit der Ödipussage getan hatte. Hierdurch gelangt der Autor zu
zahlreichen Verknüpfungen mit heutigen Problemstellungen und Redewendungen.
Sorgfältig geht der
Autor den einzelnen Figuren, ihren vermutlichen Wünschen, Ängsten, Schuld-
und Schamgefühlen sowie Abwehrformen dieser unangenehmen Affekte und dieser
Wünsche nach.
Der Autor gibt auch
einen Einblick in das Handwerk des Gräzisten. Erforderlich ist ein sehr
genaues Lesen.
Im Folgenden einige
Stichworte aus dem Inhalt:
Das
Stück zeigt dem Publikum, wie es Ödipus
nach der Aufdeckung seiner Tötung seines Vaters und seines Inzests und der
nachfolgenden Verbannung aus Theben ergeht, und wie er in Kolonos, einem
Vorort Athens, eine Entmutigungsschwelle überwindet und sofort den Rest
dieses seines letzten Tages gestaltet. Dort hat er zunächst den sich
versteifenden, dann immer wieder aufflackernden Widerstand des Chors zu überwinden.
Dieser Ablauf kann an die widerstandslose Eroberung einer Frau nach Fallen
äußerer, mehr formaler Kontrollen erinnern, ebenso wie die Eroberung der
Iokaste nach Entfallen der Kontrolle durch die Sphinx. Ein innerer
Widerstand wird hier der Frau bzw. den Rachegöttinnen nicht zugesprochen.
Sophokles
stellt seine Figuren differenziert und menschlich, ungekünstelt dar.
Im
Gegensatz zu Ödipus sind und bleiben Theseus und Kreon in einem
konventionellen Umfeld einschließlich der Götter gut eingebettet und
teilen auch aus diesem Grund nicht sein Schicksal. Deren Familien sind zudem
nicht mit einem Fluch der Götter behaftet, und Kreon wie Theseus haben sich
auch nicht zu Verfluchungen und nicht zum verbotenen Betreten des
Eumenidenhains hinreißen lassen.
Theseus
gewinnt den Kampf um Ödipus, Kreon verliert ihn wie auch die Töchter.
Kreon
und Theseus sind nicht so heuchlerisch, eigennützig und rücksichtlos wie
sie wiederholt dargestellt worden sind. Sie handeln als Staatsmänner, um
die Interessen ihrer Stadt zu wahren und hierzu das Grab Ödipus` in der Nähe
von Theben zu haben.
Die Figuren der
beiden Töchter
verkörpern Ödipus ` vertraute, heimische Nahwelt. Sie sind das einzige,
was ihm geblieben ist. Dadurch sind die Töchter aber auch in Urteil und
Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt, sodass sie zu spät entdecken, dass
sie von allen verlassen sind, und zu spät selbst aktiv zu werden versuchen.
Beide
Söhne sind nur in der üblichen Weise undankbar gegen ihren Vater.
Das Drama zeigt den katastrophalen
Zerfall einer Familie, wie ihn die Götter gewünscht haben und wie wir
ihn auch heute nicht selten miterleben. Im Gegensatz hierzu sind bei uns
heute die Gründe nach innen verlegt, nämlich auf die besondere Konfliktträchtigkeit
von Intimbeziehungen und von Eltern-Kindbeziehungen.
Der
Bote
ist offensichtlich erfunden, die natürliche Beschränktheit der Bühne
aufzuheben.
Die
Eumeniden (Erinnyen) sind nichts
als eine euphemistische, ironische Bezeichnung für die Rachegöttinnen
(eris, Rache), ähnlich wie pontos euxeinos („das wohlgastliche“ Meer) für
das alles andere als für damalige Verhältnisse gastliche Schwarze Meer.
Die Erinnyen waren vor allem für verwandtschaftliche Streitigkeiten
einschließlich Blutrache zuständig. Es ist daher kein Zufall, dass Ö. mit
ihnen zu tun hat und sie mit ihm.
Der
Chor stellt das Volk dar mit
seiner vorwiegend warnenden und hemmenden Funktion, seiner
Schwerbegrifflichkeit, seiner Ideenarmut, seiner Nachahmungstendenz, seinem
Haften am Herkömmlichen, am jeweils herrschenden Thema und an der
herrschenden Stimmung, mit seinem Opportunismus, mit seinem moralischem
Schematismus (Inzest und Tötung seien Untaten, gleich, wie sie
zustandegekommen seien), seiner auch manipulierenden Funktion wie bei einem
sensationsgierigen und anklagenden Medienzirkus sowie mit der Gefährlichkeit
durch seine Suggestionskraft.
Die
Bedeutung der Orakel: Die Griechen
waren schon vor Einführung der Stoa Fatalisten. In den verbreiteten
Rezeptionen der Orakel treten immer die gleichen Abwehrmechanismen in
Erscheinung: Idealisierung (der Gutheit der Götter), Rationalisierung und
Intellektualisierung (künstliche, ausgeklügelte, lebensfremde Begründungen
für die Idealisierung), Reaktionsbildung (Lob statt Zorn über das Irreführende
an den Orakeln), Vermeidung (eines Vorwurfs an die Götter), Verleugnung
(der Bosheit der Götter).
Dies alles dient dem
Ziel, die eigenen aggressiven Regungen gegen die Götter zu verdrängen und
die dafür zu befürchtende Vergeltung der Götter zu verhindern.
Laios
hatte ganz sicher gehen wollen, und die mehrfachen Maßnahmen zeigen das
Ausmaß seiner Angst, aber vor allem, dass auch er nicht wirklich daran
glaubte, die Weissagung dadurch unwirksam werden zu lassen. Die Vielzahl
seiner Gegenmaßnahmen, die das Unheil verhüten sollten, zeigt nichts
anderes als seine Skepsis gegenüber jeder Einzelmaßnahme und auch aller
Gegenmaßnahmen überhaupt an.
In der
Rezeptionsgeschichte hat sich eine eingearbeitete Verwaltungsbeamtenschaft
einem imaginären, idealisierten Griechenlandkodex verschrieben. Die Abwehr
richtet sich hier gegen alle Vorstellungen von aggressiven Gedanken der
Griechen, auch des Autors Sophokles und des Ödipus. Man hat im Kielwasser
dieser Abwehr Sophokles unterstellt, er habe ein gutes Ende für Ödipus im
Sinne einer Versöhnung mit den Unsterblichen darstellen wollen. Das
Gegenteil ist der Fall. Ödipus geht es am Ende denkbar schlecht, und sein
Tod findet ausgerechnet im Hain der Rachegöttinnen, die Spezialistinnen für
böse familiäre Angelegenheiten waren, statt. Sein Tod war so schrecklich
anzusehen, dass Kreon, der einzige Augenzeuge, sich die Augen mit der Hand
bedecken musste. Die Verharmlosung beginnt schon im Stück selbst, wo der
Bote in seinem Bericht behauptet, die Unterwelt habe sich „wohltuend
aufgetan“(1663), obwohl er selbst zugibt, dies nicht gesehen zu haben.
Die Abwehr durch
Vermeidung ist es auch, die die Kommentatoren veranlasst hat, den Text
selbst weniger zu beachten als die Rezeptionen, die er erfahren hat, und
somit auch Sophokles selbst weit weniger als seine Interpreten.
Insgesamt
scheint Sophokles mit dieser Trilogie auch das Ende einer Harmonie zwischen
den Unsterblichen und den Sterblichen einläuten und auf die Differenzen
aufmerksam machen zu wollen. Er kann als Vorläufer der Aufklärung gelten.
Die Figur des Ö. schafft einen neuen Ton in der Beziehung der Menschen zu
den Göttern, - einen provokativen Ton mit tieferer Besinnung auf sich
selbst.
Er war ja zunächst
nicht weniger orakelgläubig als seine Zeitgenossen, hat aber soviel
erlitten, dass sein innerer, unbewusster Zorn auf die Götter genügend
anstieg, um verbal die Abwehr zu durchbrechen und die Klage gegen Apoll
offen zu Tage treten zu lassen.
Irreführung durch
Orakel war nicht notwendig, um die Labdakiden ins einmal beschlossene Unglück
zu stürzen, wohl aber, um den Sterblichen noch die Schuld an ihrem Unglück
zuweisen zu können.
Die
Funktion der Orakel und der Götter besteht nach strengerer stoischer
Auffassung lediglich noch darin, den Menschen die Möglichkeit eigener
Einwirkung vorzugaukeln. Die Weissagungen erfüllen sich in jedem Falle.
Einziger Zweck der Orakel ist demnach die Verhöhnung des Menschen. Apoll
hat Ödipus nicht geweissagt, um ihm Gelegenheit zu geben, das Unheil zu
vermeiden, denn dies hätte das Orakel denkbar einfach erreichen können. Apoll
hat das Orakel vielmehr gegeben, um ihm das Gefühl zu vermitteln, er habe
selbst etwas zu entscheiden, um ihn tatsächlich aber gerade dadurch in sein
Unglück mit
eben
dieser „Entscheidung“ hineinlaufen zu lassen und ihm hinterher die
Schuld daran zu geben
und seine, Apolls, Schuld, darüber vergessen zu lassen. Die Intrige Apolls
legt es erkennbar auf diese Doppelschädigung
Ödipus` an.
Ödipus`
Erfahrungen mit Orakeln waren so niederschmetternd, wie sie nur sein
konnten. Sie hatten ihn gelehrt, wie unsinnig die Hoffnungen sind, die sich
auf sie gründen, aber wie groß die Verführung ist, diese zu hegen.
Es
ist, als ob Ö. die Illusion hatte: Wenn ich gegen Euch nichts erreichen
kann, dann werde ich mit Euch etwas erreichen. Ö. verhält sich trotz aller
Zornausbrüche diszipliniert, indem er alles, auch Erniedrigungen
(inquisitorische Verhöre durch den Chor, Kreon und Theseus), seinem Ziel
unterordnet.
Ödipus
hat die Türen so zugeschlagen, dass eine gute Lösung endgültig
ausgeschlossen war. Die Bilanz fällt katastrophal aus. Implizit hängt über
dem Stück die teils stumme, teils auch ausgesprochene Klage gegen die Götter
als die eigentlichen Urheber dieses ganzen Unglücks. Ödipus hat ihnen aus
seiner Sicht (in seiner Illusion) vorgeführt,
was sie angerichtet haben, und zugleich etwas getan, womit aus seiner Sicht
die Götter nicht gerechnet haben konnten: Statt
das von den Göttern verhängte und vorausgesagte Unglück zu vermeiden
(dies wäre ohnehin vergeblich), strebt er es an. Er
möchte nicht mehr länger
fremdbestimmt werden, nicht mehr – in Resignation vor seinem Schicksal
- ein Designer-Ödipus der Götter bleiben, sondern endlich zur
Selbstbestimmung kommen.
Sophokles
lässt offen, ob auch dies eine bloße Illusion des Ö. ist, wie es der späteren
strengen Stoa entspricht, oder ob er sagen will, der Sterbliche könne tatsächlich
etwas, wenn auch wenig, gegen die Götter ausrichten.
Sophokles war vorsichtig. Er hat seine eigene Kritik an den Göttern in seine Hauptfigur Ö. verlagert, hielt sich im Hintergrund und schützte sich so vor dem Vorwurf der Gotteslästerei.
Die
Zuschauer selbst sollten hier - wie auch sonst im Stück - ihre eigenen Schlüsse
ziehen und nicht indoktriniert werden.
Dr.
med. Renate Schülper, Ärztin für Neurologie und Psychiatrie
Ärztin
für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie
48143 Münster, Klosterstr. 29
Bücher
Das Gutachterverfahren für tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie Verlag: Psychosozialverlag, Gießen ISBN: 978-3- 89806-773-7
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Ödipus' Ende, Sophokles (497/96-406 v. Chr.) Verlag: Peter Lang, Frankfurt ISBN: 978-3-631-61407-5
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Klassische Psychoanalytische Kompromisstheorie Verlag: Dr. Krill Verlag, Königstein ISBN: 978-3-9815177-1-2
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Sophokles Ödipus in Kolonos Drehbuch von Manfred Krill Verlag: Dr. Manfred Krill Verlag, Königstein ISBN: 978-3-9815177-0-5
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Letter to Japan Psychoanalytic Society
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